Das Rentenpaket der Regierung tritt in Kraft.
Arbeitnehmer, die 45 Beitragsjahre vorweisen, können bereits mit 63 Jahren ohne
Abschläge in Rente gehen. Das ist Unsinn.
Die Rente mit 63 Jahren ist Realität. Am 1. Juli beginnt die Umsetzung
eines der Prestigeprojekte der Bundesregierung: der Frühverrentung von
langjährigen Arbeitnehmern. Es ist das bisher teuerste Vorhaben der Großen
Koalition, Experten beziffern die Kosten auf rund 10 Milliarden Euro – pro Jahr
wohlgemerkt. Doch trotz der aberwitzigen Kosten und dem massiven Fachkräftemangel,
unter dem die Wirtschaft schon heute ächzt, sehen die Bundesbürger die Rente
mit 63 mehrheitlich positiv – das zeigen aktuelle Umfragen. Drei von vier
Deutschen finden das Projekt gut. Selbst die Jüngeren, die ja letztlich die
Zeche zahlen müssen, stehen dahinter.
Ist also die Idee der Rente mit 63 trotz aller
Kritik doch nicht so schlecht? Liegen die Experten mit ihren fast einhellig
negativen Einschätzungen alle daneben? Ich denke nicht. Unter
Demografie-Fachleuten herrscht Einigkeit, dass dieses Konzept
wirtschaftspolitisch gefährlicher Unsinn ist. Die Rente mit 63 ist ungerecht,
skandalös und unbezahlbar.
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Ungerecht, weil in der jetzigen Form nur eine einzige Gruppe davon profitiert:
Die meist männlichen Facharbeiter, die nach 45 Arbeitsjahren schon mit 63 statt
wie bisher mit 65 ihre Rente erhalten. Im Gegenzug haben beispielsweise Frauen,
die etwa als Pflegekräfte beschäftigt sind, in aller Regel keine Chance, diese
lange Berufstätigkeit zu erreichen. Sie müssen, soweit möglich, länger
arbeiten. Das ist höchst unsozial, weil diese Gruppe genauso Ziel einer
Rentenreform sein müsste, die laut Regierung ja auf eine verbesserte Situation
für gesundheitlich besonders fordernde Beschäftigungen abzielen soll.
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Ungerecht auch deswegen, weil nur eine – willkürlich? – definierte Gruppe in
den Genuss dieser Regelung kommt, nämlich Personen, die vor 1953 geboren wurden.
Erwartet werden etwa 200.000 Berechtigte je neuen Rentenjahrgang - davon drei
Viertel Männer.
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Skandalös ist das Konzept zudem. Denn es wurde mit der politischen Mehrheit der
großen Koalition im Eiltempo durchgeboxt, ohne dass eine Entscheidung von solcher
Tragweite zuvor von Demographieexperten und anderen Fachleuten ausreichend
hätte begutachtet werden können. Das zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass
kurz vor Toresschluss noch schnell die so genannte „Flexi-Rente“ nachgeschoben
wurde, eine Ergänzung, die zwar in die richtige Richtung geht, aber von Anfang
an ins Fundament des Konzepts gehört hätte. Dass die Gruppe des Öffentlichen
Dienstes komplett außen vor bleibt, und die Pensionen der Beamten und
Abgeordneten erneut nicht angefasst werden, passt ins Bild.
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Unbezahlbar ist die Rente mit 63 bereits heute. Und das wird noch schlimmer.
Die Alterspyramide spricht hier eine eindeutige Sprache. Seit 1972 sind die
Geburtenraten rückläufig, rund 740.000 Babyboomer gehen jetzt jedes Jahr in
Rente. Im Jahr 2020 werden zwei Drittel aller Führungskräfte über 50 Jahre alt
sein. Mit anderen Worten: Die Waage neigt sich gefährlich in eine Richtung.
Der Keim einer
Lösung
Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die politische
Weichenstellung, kaum dass Sie mit viel Tamtam verkündet worden ist, von der
Realität, also pragmatisch denkenden Unternehmen und „Best Agers“ längst links
überholt worden ist. Während die Bundesregierung ihr Konzept noch vorstellt,
entscheiden sich immer mehr ältere Arbeitnehmer dazu, weiterzuarbeiten. Laut
statistischem Bundesamt gehen aktuell bereits 800.000 Bundesbürger über 65
Jahre einer Arbeit nach. Die Steigerungsraten sind bei älteren Beschäftigten so
rasant wie bei keiner anderen Bevölkerungsgruppe. Natürlich spielen dabei oft finanzielle
Gründe, also die Aufbesserung der eigenen Finanzmittel, eine wichtige Rolle.
Aber ganz generell entspricht es einfach nicht mehr dem Lebensgefühl vieler
Rentner, von heute auf morgen einfach den „Griffel“ fallen zu lassen.
Stattdessen suchen Sie nach passenden neuen Herausforderungen.
Hierin liegt auch der Keim der Lösung: Die Zahlen sind ein Symptom des
gesellschaftlichen Umdenkprozesses, der bei vielen Unternehmen und älteren
Arbeitnehmern längst begonnen hat aber in der Politik noch nicht angekommen
ist. Wir müssen in punkto Arbeitsleben weg von den starren linealen
Lebensentwürfen hin zu mehr modular aufgebauten, flexiblen Lösungen und
Möglichkeiten.
Die Unternehmen setzen das bereits um und erkennen inzwischen das Potenzial
älterer Arbeitnehmer. Diese verfügen über langjährige Erfahrung, sind
krisenerprobt, kennen die „innenpolitischen Spielregeln“ und haben
außerordentliches Fachwissen. Gute Buchhalter, Justiziare oder Ingenieure
werden mehr denn je gebraucht. Diese Kompetenz sichert sich eine wachsende Zahl
von Unternehmen, indem sie ältere Arbeitnehmer gezielt über spezielle
Business-Netzwerke für erfahrene Fach- und Führungskräfte suchen und mit
pragmatischen Lösungen wie Teilzeitarbeit, Projektverträgen und individuellen
Konditionen locken.
Das gilt es zu fördern und zu verstärken.
Einerseits, indem man steuerliche Hindernisse abbaut, finanzielle Anreize
schafft und die mageren Hinzuverdienstgrenzen für Rentner überdenkt.
Andererseits müssen ältere Fachleute weiter gefördert werden, um sie fit
für die technologischen Herausforderungen zu machen. Es ist doch
ausgesprochen seltsam, dass Talentförderung überwiegend Ende 30 aufhört und man
kaum Fortbildungen für Mitarbeiter ab 45 findet.
Letztlich gipfelt das alles in einer Forderung:
Das Bild der älteren Menschen muss sich ändern – sozial wie
wirtschaftspolitisch. Die Gesellschaft muss angesichts der demografischen
Entwicklung schnellstens das Potenzial älterer Arbeitnehmer erkennen und ihnen
durch flexible Rentenregelungen die Möglichkeit geben, sich wieder in den
Arbeitsmarkt eingliedern zu können.
URL: http://www.wiwo.de/politik/deutschland/rentenreform-der-keim-einer-loesung/10132358-2.html